Erinnert ihr euch noch? Nachdem wir schon zwei mal von Percy und seinem Kollegen und Archivar Fitz gelesen haben, stürzen wir uns erneut in das Abenteuer. Den Anfang der Geschichte könnt ihr nachlesen, wenn ihr diesem Link folgt. Falls ihr den zweiten Teil verpasst habt, könnt ihr den hier schnell nachholen. Und jetzt möchte ich euch nicht länger aufhalten…
Dritter Teil – 18. Oktober 1889, Edinburgh
Ein Schrei. Erschrocken sahen wir uns an.
„Schnell, nach unten!“, rief ich, „Das kam von Mrs. Kennton!“
Wir rannten aus der Tür und achteten nicht darauf, dass sie krachend aufflog und sprinteten die Treppe hinab. Im Flur rutschte ich beinahe aus, doch Percy stützte mich und im nächsten Moment standen wir vor der Tür zur Küche. Ein leises Wimmern ertönte gedämpft durch die Tür und als ich sie aufdrückte hörte ich davor Scherben klirren. Mrs. Kennton stand mit aschfahlem Gesicht neben der Tür, den Blick furchtsam von uns abgewendet.
Wir folgten ihrem Blick und sahen zum Fenster und dahinter war: nichts. Wer immer gerade dort gewesen war, war nun verschwunden und hatte nur die aufgelöste Mrs. Kennton zurückgelassen. Die Tassen und die Kanne lagen in einem Scherbenhaufen auf dem Fliesenboden und der heiße Tee hatte sich in einer großen Pfütze ergossen. Einen Moment war es still. Dann brach es aus Mrs. Kennton heraus und ein Heulkrampf schüttelte sie, während ihr Percy verlegen ein Taschentuch reichte. Schnell machte ich mich daran die Scherben aufzusammeln und wischte den Tee mit einem Lappen auf.
„Schnell, Fitz, Sie bleiben hier, ich gehe in den Garten!“, rief Percy und war schon halb aus der Tür, „Lass Mrs. Kennton nicht für eine Sekunde allein!“
Während er das sagte fasste er sich an seine innere Jackettasche und ich nickte. Es war das Zeichen, dass ich meinen Revolver bereithalten sollte. Doch gegen einen Geist würde mir der nur wenig helfen, dachte ich. Bald beruhigte sich Mrs. Kennton wieder, vielleicht auch, da sie wusste, dass sie nicht in Gefahr schwebte, solange Percy oder ich in ihrer Nähe waren. Ich begleitete sie in das Wohnzimmer, wo sie statt Tee nun den Kaffee einschenkte, den sie vom Ofen genommen hatte. Percy kam aus dem Garten wieder und sein missmutiger Blick zeigte mir, dass er nicht erfolgreich gewesen war.
Er setzte sich zu Mrs. Kennton und mir an den Esstisch im Wohnzimmer und rührte gedankenverloren mit einem Löffel in seiner Tasse. Sein fettiges schwarzes Haar hing ihm noch wirrer in die Stirn als sonst und auch sonst schien er sehr unzufrieden damit, wie unser Fall verlief. Ich musterte ihn gerade, als ich ein seltsames Prickeln spürte, so ein Gefühl, als ob…
„Percy! Am Fenster!“, schrie ich.
Ich war aufgesprungen und hatte dabei den Stuhl umgeschmissen und meine Kaffeetasse war mir aus der Hand gerutscht und der schwarze Kaffee verteilte sich auf dem Esstisch. Percy saß mit dem Rücken zum Fenster und war nun ebenfalls aufgesprungen und war noch vor mir am Fenster und drückte seine Hände gegen die Scheiben. Doch da war nichts. Es war weg.
„Fitz?“, fragte Percy.
„Mir war als… da war ein Augenpaar, dass mich angesehen hat, wirklich! Ich kann es mir nicht erklären, da war etwas, bestimmt!“
Percy seufzte und wischte mit Mrs. Kennton den von mir verschütteten Kaffee auf. Er blickte hinaus in den Garten und in den Himmel, der noch immer bewölkt war. Mittag war vorbei und es wurde Nachmittag.
„Es tut mir leid, Mrs. Kennton, aber für den heutigen Tag können wir Ihnen leider nicht mehr helfen.“, gestand Percy schließlich ein, „Wir müssen zurück in unsere Detektei und ich muss nachdenken. Wir werden wahrscheinlich morgen früh wiederkommen und hoffentlich wissen wir dann mehr. Gehen Sie solange Sie allein sind nicht in den Garten. Schließen Sie heute Abend die Fensterläden und nähern Sie sich für den Rest des Tages nicht mehr den Fenstern. Dann, das verspreche ich, wird Ihnen nichts passieren.“
Es war wie die Rückkehr der reumütigen Soldaten von einer verlorenen Schlacht, als wir zurück in unser Haus kamen, das gleichzeitig unser Zuhause und unsere Detektei war. Percy ging sofort zu dem Regal, in dem wir die Aufzeichnungen unserer Detektei aufbewahrten. Es waren dicke Ordner mit Maschinengeschriebenen Texten. Ich führte Protokoll über jeden unserer Fälle. Percy aber griff nach den Notizbüchern, in denen er seine persönlichen Gedanken stets festhielt. Einen Moment blätterte er das Papier raschelnd um. Dann stieß er einen lauten Ruf aus.
„Ich wusste, dass mir der Absender des Briefes bekannt ist. S.Baker – Smith Baker? Wenn ja, dann wäre das sehr seltsam. Smith Baker ist ein Verbrecher, den ich bisher nicht drangekriegt hatte. Ein kleiner Fisch mit großen Ambitionen.“
„Es gibt in Edinburgh sicher viele S.Bakers.“, gab ich zu bedenken, „Woher kennen Sie denn diesen Baker? Ein alter Fall, vor meiner Zeit?“
Doch Percy reagierte nicht mehr. Er hatte sich in seinen Sessel fallen lassen und starrte in den Kamin. Er steckte sich gleich drei Salmiakpastillen auf einmal ein und versank in einer Art Meditation, den Kopf auf die Hände gestützt, die Augen geschlossen. Die Falten auf Percys Stirn vertieften sich. Er wirkte mehr denn je wie ein Raubtier, das auf der Lauer liegt, in höchster Konzentration darauf wartend, dass der Feind so dumm ist hervorzukommen.
Ich selbst blätterte in meinen Notizen und versuchte mir einen Reim aus den Geschehnissen des Tages zu machen. Der Geist war heute gleich zweimal aufgetaucht, wo er vorher nach Mrs. Kenntons Erzählung nur zweimal im Abstand von je einem Tag aufgetaucht war. Außerdem hatte sich der Geist vorher immer nur gezeigt, wenn Mrs. Kennton allein war und nie, wenn sie Besuch hatte – obwohl das offenbar sehr oft der Fall war. Wenn Percy jedoch Recht hatte und es sich bei dem Geist um eine reale Person handelte, wie konnte sie jedes Mal nachdem sie gesehen worden war, spurlos verschwinden? Und, noch viel wichtiger, was war der Sinn dahinter, Mrs. Kennton zu erschrecken?
Es half nichts. Ein Telegrammbote brachte ein Telegramm, wahrscheinlich zu einem der anderen laufenden Fälle. Ich legte es neben Percy auf den Wohnzimmertisch, doch er bemerkte das gar nicht. Abends fing es an stark zu regnen und das Wasser trommelte auf die Fenster. Wieder sah ich auf die Straße hinab und auf die wenigen Passanten, die sich unter ihren Schirmen versteckten oder sich rennend im nächsten Pub in Sicherheit brachten. Doch schon bald sah man außer ein paar Schutzbeamten niemand mehr auf der Straße.
Wer unbedingt vor die Tür musste, nahm eine Droschke. Die Pferde waren vom Regen ganz nass, und wenn irgendwo an der Straße eine Droschke hielt, dann dampften die Rücken der Pferde. Die Droschkenfahrer saßen stets ungeschützt auf dem Kutschbock der schwarzen Kutschen und waren in dicke wollene Mäntel gehüllt. So manch einer trug schwere wollene Handschuhe und eine dicke Wollmütze oder einen ledernen Schlapphut auf dem Kopf, von dem das Wasser zu allen Seiten ablief. Diejenigen, die keine Handschuhe trugen, hielten die Zügel und die Peitsche in roten klammen Händen und wärmten sie sich nicht selten an einer warmen Pfeife.
Die Regenwolken hatten sich an den Dächern der Stadt verfangen und schienen sich auf ihnen ausruhen und all den Ballast abwerfen zu wollen, den sie mit sich mittrugen. Der Regen wollte nicht aufhören. Bald kam der Wind auch zwischen die Häuser und blies den Regen in nassen Böen von einer zur anderen Seite. Hier und da klapperte ein Fensterladen, doch jedes Geräusch, selbst das Klappern der Hufe der Pferde und das Rollen der Droschkenräder auf dem Kopfsteinpflaster, ging im Regen unter.
Ich trat vom Fenster zurück und sah zu Percy, doch er hatte sich in seinem Sessel noch immer nicht gerührt. So saß er immer noch in seinem Sessel, die Hände unterm Kinn, die Beine auf dem Sitz verschränkt, mit geschlossenen Augen, als ich zu Bett ging.
19.Oktober 1889, Edinburgh
Als ich am nächsten Morgen aufwachte saß Percy bereits am Frühstückstisch. Er rührte in seinem Tee und hatte bereits zwei vollständige Scottish-Breakfasts bereitgestellt. Percy wirkte wach und obwohl er weit später als ich in sein Zimmer gegangen war, wirkte er ausgeschlafen. Alles in allem wirkte er, als haben seine Überlegungen gestern Abend Früchte getragen.
„Guten Morgen Fitz!“, rief er, als ich in unser Esszimmer kam. „Ich hoffe Sie haben gut geschlafen, denn das habe ich auf jeden Fall. Wie ein Stein, bis heute Morgen der Junge die Zeitung vorbeigebracht hat.“
Ich setzte mich an den Tisch und wir begannen zu essen. Ich zerteilte mein Spiegelei und nahm einen Happen auf die Gabel, zusammen mit etwas Fleisch. Dann nippte ich an meinem Tee.
„Nun fangen Sie schon an, Percy. Ich kann ihnen doch ansehen, dass Sie Fortschritte gemacht haben.“, sagte ich.
„Aber Fitz, wir wollen doch erstmal in Ruhe frühstücken.“, sagte er, „was würden Sie denn vorschlagen sind unsere nächsten Schritte?“
„Wahrscheinlich legen wir uns in Mrs. Kenntons Garten auf die Lauer.“, vermutete ich.
„Weit gefehlt!“, rief er. „Das ist nicht mehr nötig.“
Er schenkte uns beiden Tee nach. Ich nahm mir noch ein weiteres Spiegelei.
„So, Sie haben das Rätsel also schon gelöst?“, fragte ich.
„Nur zur Hälfte. Es ist um Einiges schwieriger und verworrener, ja geradezu überraschend, dass ich doch einige Zeit gebraucht habe, um darauf zu kommen. Und trotzdem ist die Lösung einfacher, als ich gehofft hatte.“
Er redete verworren und ich verstand nichts von dem, was er sagte, auch wenn ich weiß Gott kein schlechter Denker bin. Er mochte es einfach, die Leute um sich herum zu verwirren, das tat er schon immer. Doch noch mehr liebte er es, sie auf die Folter zu spannen.
„Vielleicht sollten wir uns noch einmal gemeinsam Gedanken machen, damit Sie von selbst auf die Lösung kommen.“, schlug Percy vor.
Er machte sich einen Spaß daraus, das wusste ich. Doch natürlich war wie immer mein Ehrgeiz geweckt, und ich spielte mit.
„Also. Mrs. Kennton sucht uns in einem seltsamen Fall auf. Sie wurde von ihrem verstorbenen Ehegatten heimgesucht.“, sagte Percy. „Auch als wir sie besuchten, tauchte er auf. Jedoch immer nur für einen kurzen Moment und – zumindest nach ihrer Aussage – nur wenn sie allein war.“
„Soweit habe ich es verstanden.“, knurrte ich, „Aber mir will keine Erleuchtung kommen.“
„Hilft vielleicht…“, plötzlich fuhr Percy auf und schrie: „Da! Fitz, am Fenster!“
Ich war aufgesprungen und wollte schon zum Fenster hechten, als ich Percy laut auflachen hörte.
„Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Percy!“, rief ich.
Percy lachte noch lauter, hielt sich jetzt sogar den Bauch vor Lachen.
Na, das klingt aber sonderbar. Doch wir merken sicher alle, dass wir uns langsam dem Ende nähern, wie auch immer das Aussehen mag. Teil 4 könnt ihr bereits über diesen Link lesen – ich glaube, da werden sich ein paar Fragen klären. Vielen Dank fürs Lesen!