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Der Fall Julian Assange – Sachbuch

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In vielen Orten der Welt wird um Meinungsfreiheit gekämpft. In Russland sitzt der Oppositionspolitiker Alexej Navalny in Haft, doch es gibt auch geographisch viel näher liegende Probleme. Heute endet die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels veranstaltete „Woche der Meinungsfreiheit“ – und kurz davor, man möchte sagen: rechtzeitig – veröffentlichte Nils Melzer sein Buch über einen der größten Justizskandale aller Zeiten: das Buch über den Fall Julian Assange.

Am 19.4. erschien Nils Melzers packend erzähltes, aber in seriösem Ton gehaltenes Sachbuch beim Piper-Verlag. Schon zuvor sorgte Nils Melzer mit Interviews in der für ihn üblichen bedächtigen, klar analytischen Art für ein Umdenken in der Berichterstattung über den Fall Assange. Auch ich las immer wieder mit Bestürzung, was Nils Melzer zu berichten hatte. Sein Buch erschien dann auch unter den offiziellen Leseempfehlungen zur Woche der Meinungsfreiheit – es war für mich keine Frage, dass ich seinen vollständigen Bericht lesen wollte.

Aber halt – wer ist Nils Melzer überhaupt?

Nils Melzer

Nils Melzer wurde 1970 in Zürich geboren und studierte Rechtswissenschaften. Er ist Professor für Internationales Recht mit Lehrstühlen in Glasgow und Genf, war als Abgesandter und Rechtsberater des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Kriegs- und Krisengebieten tätig und wurde 2016 von den Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter über Folter ernannt.

Nils Melzer ist also ein Experte wenn es um Rechtsfragen, um Diplomatie und – ganz besonders – wenn es um Folter geht. Warum er als UN-Berichterstatter überhaupt ein Buch schreibt, statt weiterhin auf den gewohnten Wegen der Diplomatie seine Ergebnisse zu verbreiten, war einer der Punkte, die er im Vorwort klären musste. Seine diplomatischen Briefe, seine Interventionen und Berichte seien die Mittel, derer er sich für gewöhnlich bedient, schrieb Melzer. Wenn jedoch das Mittel nicht funktioniert, dann muss ein anderes Mittel her, um das Ziel zu erreichen. Dass er also Interviews gab und nun seinen Bericht in Buchform veröffentlichte, war für ihn ein logischer Schritt, da er über die üblichen Kanäle seiner Arbeit nichts erreichen konnte.

Julian Assange

Von Julian Assange haben wir wahrscheinlich alle schon gehört: der australische Journalist und Gründer von WikiLeaks, der gemeinsam mit einigen der größten Medien der Welt geheime Dokumente leakte – das Collateral-Murder-Video, die Afghan-War-Diaries, Cablegate. Die Liste ließe sich schier endlos wiederholen und sie wächst jedes Jahr weiter an, obwohl die Aufmerksamkeit nachgelassen hat. Die Person Julian Assange durchlief dagegen eine dauerhafte Verwandlung in der öffentlichen Meinung: vom gefeierten Enthüllungs-Journalist zum der Vergewaltigung beschuldigten Narzissten, der nicht nur mit seinen Enthüllungen Donald Trump 2017 zum Wahlsieg verholfen habe, sondern sich auch seiner gerechten Bestrafung entziehe.

Assange verbrachte knapp zehn Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen isoliert in der Ecuadorianischen Botschaft in London – auch von dort verbreiteten sich in letzter Zeit Gerüchte über sein scheinbar unangemessenes Verhalten – er habe in der Botschaft Fußball gespielt und sei auf einem Skateboard gefahren (laut Nils Melzer gezielte Rufmord-Kampagnen der Ecuadorianischen Regierung, die in den letzten Jahren kein Interesse mehr daran hatten, Assange weiterhin Asyl zu gewähren. Laut den medizinischen Untersuchengen die Melzer durchführen ließ, ist Assanges körperliche Verfassung so schlecht, dass er nicht in der Lage ist Skateboard zu fahren. Noch dazu ließ ihn die Ecuadorianische Botschaft nachweislich dauerhaft Kameraüberwachen. Die zuständige Überwachungsfirma übermittelte Aufnahmen von sensiblen Gesprächen z.B. mit Assanges Anwälten an die amerikanischen Geheimdienste). Schließlich wurde er 2019 von britischen Behörden aus der Botschaft entfernt und sitzt seitdem in Großbritannien in Isolationshaft – derzeit tatsächlich ohne, dass ihm in Großbritannien ein Verbrechen vorgeworfen wird.

Auch Nils Melzer schreckte Assanges zerstörte Reputation ab, als er sich 2019 erstmals mit dem Fall beschäftigte. Doch in seinem Buch beschrieb Melzer chronologisch, wie er Stück für Stück an den Fall heranging, wie er Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Großbritannien besuchte, und wie ihm schnell klar wurde, dass Assange nicht einfach Opfer eines Justizskandals, sondern auch Opfer von psychischer Folter ist.

Ein Opfer psychischer Folter

Melzers detaillierte Schilderungen seiner Untersuchungsergebnisse sind erschütternd: eine seit zehn Jahren andauernde Untersuchung wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden, bei denen die Aussagen der Opfer von Beamten nachträglich ergänzt wurden, bei der die beiden potenziellen Opfer von außen stark beeinflusst wurden. Eine Untersuchung, in der außerdem nie Anklage erhoben wurde – mangels Beweisen – die jedoch auch nicht eingestellt wurde, sondern die man einfach verjähren ließ. Der schlechte Ruf für Assange blieb, die Opfer hatten nie die Chance Gerechtigkeit zu erfahren – Assange und die beiden Opfer sind alle Opfer von Justizwillkür, die in Schweden bis heute nicht aufgeklärt wurde.

Doch damit enden Nils Melzers Ausführungen bei Weitem nicht: er schildert Justizwillkür, gezielten Rufmord und psychische Folter, er legt dar, wie Ecuador, Schweden und Großbritannien zu Werkzeugen der USA in einer fatalen Hexenjagd wurden. Und er zeigt, wie all das vor unseren Augen geschah und viele es trotzdem nicht sahen. Im Prinzip, so Nils Melzer, sei er selbst zum Whistleblower geworden.

Sein Buch beendet der UN-Sonderberichterstatter mit einer Schilderung des Status Quo. Er beschreibt, wie seine Berichte zwar in den entsprechenden Ländern keinen positiven Effekt hatten, wie sich jedoch dank seinen Schilderungen die öffentliche Meinung zum Fall Assange in den letzten zwei Jahren änderte. Und er beendet sein Buch mit einem Weckruf: die USA haben Assange längst dort, wo sie ihn haben wollen: Julian Assange droht nach wie vor, an die USA ausgeliefert zu werden, wo ihm 175 Jahre Haft oder gar die Todesstrafe drohen, er schwebt in akuter Suizidgefahr, denn die Jahre der Verfolgung zeigen ihre Wirkung – und mit ihm sitzt in Belmarsh nicht ein australischer Redakteur, sondern der ganze westliche Enthüllungsjournalismus in Isolationshaft.

Damit ist klar: „Der Fall Julian Assange“ ist ein Buch, das uns alle etwas angeht, und das ich jeder und jedem empfehlen muss.

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